Das Wort des Präsidenten

Liebe Kolleginnen und Kollegen im Strahlenschutz
Sie haben mich für die Amtsperiode 2022-2023 zum Präsidenten des Fachverbandes für Strahlenschutz gewählt. Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen und freue mich auf diese Aufgabe. Der Strahlenschutz steht heute auf einem hohen Niveau. Er ermöglicht einen sicheren Umgang mit Strahlung und Radioaktivität im beruflichen wie im privaten Umfeld. Dazu tragen Sie mit Ihrer fachlichen Kompetenz und Ihrem Berufsethos wesentlich bei. Das soll uns jedoch nicht davon abhalten, weiterhin an der Verbesserung und der Optimierung des Strahlenschutzes zu arbeiten. Im Hinblick darauf hat die ICRP kürzlich die internationale Strahlenschutzgemeinschaft aufgefordert, der Kommission Vorschläge und Anregungen zur Verbesserung bei den Empfehlungen und beim Regelwerk im Strahlenschutz zu unterbreiten. Dieser Einladung sollten wir Folge leisten und gemeinsam an der Verbesserung des Strahlenschutzes arbeiten. Die IRPA hat hierzu eine Task Group on the Revision of the System of Radiological Protection geschaffen, bei der ich den FS vertreten darf.
Das Corona-Virus hat uns deutlich vor Augen geführt, wie vulnerabel unsere Gesellschaft, ihre Strukturen und Einrichtungen sind. Eine besondere Herausforderung ist, während solchen Zeiten die gesetzlich vorgesehenen Tätigkeiten im Strahlenschutz weiterzuführen. Dazu gehören etwa der Strahlenschutz am Arbeitsplatz und für die Bevölkerung, die Umweltüberwachung, Aus- und Weiterbildung, Fachanerkennung, aber auch die Strahlenforschung. Die Pandemie zeigt uns auch, wie dringend eine objektive und wertneutrale Information der Bevölkerung über Risiken und Wahrscheinlichkeiten ist.
Die Linear No-Threshold Hypothese, das so genannte LNT-Modell, gibt in der Strahlenschutzgemeinschaft immer häufiger Anlass zu Diskussionen. LNT ist nach wie vor eine Hypothese, für deren Gültigkeit es keine wissenschaftliche Evidenz gibt. Zwar scheint es biologisch plausibel, dass das Schadensausmaß in erster Näherung proportional mit der Dosis zunimmt. Man darf dabei aber nicht außer Acht lassen, dass ein biologischer Organismus mehr ist, als eine Ansammlung von passiven Targets im Sinne des klassische Treffermodels. Ganz im Gegenteil: Die Zellen reagieren aktiv auf äußere Einwirkungen. Sie kommunizieren miteinander und die Natur ist bestrebt, die Integrität und Funktionalität eines Organismus’ zu erhalten. Darin, und insbesondere beim Reparieren von Schäden an der DNA, ist sie sie denn auch sehr erfolgreich. Dieses Verhalten biologischer Systeme lässt vermuten, dass es eine untere Dosisschwelle oder gar eine Hormesis bei Strahlung geben könnte. Zurzeit haben wir allerdings noch keine wissenschaftlich genügend gesicherte Evidenz dafür.
Wir sollten uns auch Gedanken machen über die praktische Anwendung der ALARA-Empfehlung, beispielsweise zur Frage, wie das Wort «reasonable», oder wie der Zusatz «taking into account economic and social factors» bei ALARA zu verstehen sind. Dazu gehört auch die Frage, wie ALARA in Gesellschaften mit anderen Wertmaßstäben und Prioritäten als den unsrigen anzuwenden sei. Bei der Beurteilung eines Strahlenrisikos und auch bei der Bewertung von Optimierungsmaßnahmen ist immer die gesamte Strahlenexposition und das Gesamtrisiko unseres täglichen Lebens im Auge zu behalten und um wieviel eine in Erwägung gezogene Strahlenschutzmaßnahme dieses reduzieren kann. Maßnahmen sollten nicht über ihre Machbarkeit gerechtfertigt werden, sondern wieweit sie zur Reduktion der Strahlenexposition beitragen. In diesem Zusammenhang ist ein Graded Approach zu empfehlen, bei dem Maßnahmen prioritär auf die höchsten Risiken auszurichten sind. Die größten Komponenten unserer Strahlexposition werden bei der beruflichen Exposition durch die kosmischen Strahlung beim Personal der Zivilluftfahrt verursacht, bei der Bevölkerung ist es das Radon im Wohnbereich. Deshalb ist für Radon ein international abgestimmtes Schutzkonzept mit einheitlichen Empfehlungen, Konversionsfaktoren und Referenzwerten so dringend.
In Bereichen, wo unseren fachlichen Kompetenzen liegen, sollten wir uns auch bei Tabu-Themen nicht scheuen, deutlich Stellung zu beziehen. Es ist für mich klar, dass wir uns als Fachverband bei politischen Themen – wie etwa dem Ausstieg aus der Kernenergie – eher zurückhalten, jedoch nicht in Bereichen wie Strahlenschutz und Strahlenwirkung. Ich denke dabei an die radiologischen Auswirkungen von Kernanlagen im Normalbetrieb, an Prognosen über mögliche radiologische Folgen von Störfällen bei Kernanlagen, an die hypothetischen radiologische Auswirkungen eines Endlagers für radioaktive Abfälle, an die Gefahren durch Radon im Wohn- und Arbeitsbereich oder schließlich auch an die Beurteilung gesundheitlicher Risiken durch technische Anwendungen nicht-ionisierender Strahlung, wie etwa beim Mobilfunk und hier ganz aktuell durch den neuesten Mobilfunkstandard 5G.
Bei der Kommunikation sollten wir Strahlenschützerinnen und Strahlenschützer mehr proaktiv statt reaktiv informieren, den Kontakt zu Behörden, Medien und der Bevölkerung suchen und das Feld nicht selbsternannten Experten überlassen. Hier geht es darum, durch sachliche Information Ängste vor Unbekanntem abzubauen, das Wissen über Risiken und Gefahren bei der Bevölkerung zu stärken und aufzuzeigen, wie sich jeder einzelne wirksam schützen kann. Damit wir unser Fachwissen und unserer Erfahrung wirkungsvoll für einen sicheren Umgang mit Strahlung und Radioaktivität einsetzen können, benötigen wir ein praxisorientiertes Regelwerk im Strahlenschutz, das auch für Behörden und Laien verständlich und nachvollziehbar ist. Weitere Voraussetzungen dazu sind ein laufend überprüftes und optimiertes Angebot für Aus- und Weiterbildung im Strahlenschutz und die Förderung der Forschung im Gebiet Strahlenschutz und Strahlenwirkung.
In den Bereichen Kommunikation, Aus- und Weiterbildung hat der Fachverband ein vielfältiges Angebot. Dazu gehört nebst unser Fachzeitschrift StrahlenschutzPRAXIS, den 14 Arbeitskreisen des FS, auch unserer Web-Seite (https://www.fs-ev.org), die StrahlenschutzKOMPAKT-Blätter und unsere Jahrestagungen. Die diesjährige – sie ist die 53. Jahrestagung des FS – wird vom 26.-30.9.2022 in Konstanz stattfinden, diejenige vom nächsten Jahr zusammen mit dem Österreichischen Verband für Strahlenschutz (ÖVS) voraussichtlich im Herbst 2023 in Österreich. Erwähnen möchte ich auch den 6. Europäische IRPA-Kongress vom 30.5. bis 3.6.2022 in Budapest. Ich lade Sie ein dieses reichhaltige Angebot intensiv zu nutzen und – entsprechend zu ihrem Fachgebiet – auch in den Arbeitskreisen mitzumachen. Dies alles ermöglicht Ihnen eine kontinuierliche Aus- und Weiterbildung, sowie den fachlichen Austausch mit Kolleginnen und Kollegen im ganzen deutschsprachigen Raum.
Ich freue mich, zusammen mit ihnen an der Optimierung des Strahlenschutzes zu arbeiten.
Bleiben Sie gesund, halten Sie die Hygiene-Regeln ein, und – sofern Sie es nicht schon getan haben – lassen Sie sich gegen Covid impfen!
Freiburg/Fribourg in der Schweiz, im Januar 2022
Hansruedi Völkle