Retrospektive Dosimetrie
Ein Resümee
In der Vergangenheit sind immer wieder Artikel zur retrospektiven Dosimetrie in der Strahlenschutz-PRAXIS erschienen. Teilgebiete auch als Schwerpunkt. Denke ich an dieses Thema, fallen mir als Erstes Bio-dosimetrie und physikalische Methoden wie Elektronenspinresonanz und Thermoluminiszenz ein. Doch die retrospektive Dosimetrie hat viele Facetten. Höchste Zeit, dem Thema mal einen eigenen Schwerpunkt zu widmen. In großer Breite. Auch mit Aspekten, an die man nicht gleich als Erstes denkt. Dabei geht es stets darum, Dosisfeststellungen auch noch im Nachhinein zu treffen und zu bewerten.
Die Beiträge dieses Schwerpunktes spannen einen großen Bogen, von eher klassischen Methoden über neuere Entwicklungen bis hin zur Dosisermittlung zwecks Bewertung von Berufskrankheiten und die Neu-bewertung von Dosen für epidemiologische Studien.
Ursula Oestreicher und Matthias Port beschäftigen sich im Beitrag „Vernetzung – eine Strategie zur Kapazitätssteigerung in der biologischen und retrospektiven physikalischen Dosimetrie“ mit den Vorteilen und auch der Notwendigkeit internationaler Zusammenarbeit. Als Beispiel dient das Netzwerk RENEB dafür, wie viele Netzwerke aus einem EU-Projekt entstanden. RENEB und seine Partner sind wiederum in anderen Netzwerken eingebunden. So entstehen vielfältige Reaktionsmöglichkeiten auf Großschadens lagen, aber auch auf Strahlenunfälle mit wenigen betroffenen Personen. Erhöhter Probendurchsatz, Qualitätssicherung und gemeinsame Weiterentwicklung von Methoden sind Vorteile internationaler Netzwerke.
Harold M. Swartz, Sergey Sholom, Stephen G. Swarts und Ann Barry Flood widmen sich in den beiden Beiträgen „Advantages and Challenges of Using Physical Biodosimetry to Assess Individual Exposure in a Large Scale Unplanned Event“ und „Retrospective Dosimetry using OSL and EPR of fortuitous Objects“ den physikalischen Methoden der retrospektiven Dosimetrie. Im ersten Beitrag geht es um die physikalische Biodosimetrie. Sie misst physikalische Effekte im Körper des Menschen, die durch hohe Strahlung verursacht werden. Für die Untersuchung mit Elektronenspinresonanz (ESR) kommen wasserarme Materialien infrage, also Knochen, Zähne und Nägel. Inzwischen ist die Methode so weit entwickelt, dass Messungen nicht nur an extrahierten Zähnen, sondern auch in vivo durchgeführt werden können. In-vivo-Messungen wären bedeutende Bestandteile der unmittelbaren Reaktion auf große radiologische Schadensereignisse. In vivo geht auch mit Finger- und Zehennägeln. Rückschlüsse auf die Homogenität des Strahlenfeldes sind möglich. Im zweiten Beitrag geht es um die physikalische Dosimetrie, also die Messung der Strahleneffekte in Materialien, um Aussagen über das Strahlenfeld zu gewinnen, dem Menschen ausgesetzt waren. Die optisch stimulierte Lumineszenz (OSL) ist in der physikalischen Biodosimetrie nicht wirklich an menschlichem Material anwendbar. Sie hat aber ein großes Potenzial bei der Messung von Materialien. Objekte sind zum Beispiel Handys und Kreditkarten. Materialien wie Glas, Zucker, Plastik, Baumwollstoffe und Wolle sind auch mit ESR untersuch-bar. Noch gilt es allerdings bestehende Herausforderungen zu bewältigen.
Michael Abend, Ralf Kriehuber und Matthias Port führen den Reigen mit ihrem Beitrag „Früh- und Hochdurchsatzdiagnostik lebensbedrohlicher akuter Strahlenschäden mittels Genexpressionsanalyse – die Antwort auf aktuelle radiologische und nukleare Bedrohungen in Europa?“ fort. Strahleninduzierte Genexpression sind Reaktionen auf molekularer Ebene, die schon kurz nach der Bestrahlung auftreten. Sie können als Biomarker zur Vorhersage akuter Strahlenschäden, insbesondere des zu erwartenden Schweregrades einer akuten Strahlenkrankheit, dienen. Bei der molekularen Diagnostik sind Störfaktoren zu beachten, die gegenwärtig Gegenstand der Forschung sind. Erste Ansätze weisen auf die Möglichkeit der Unterscheidung von Strahlenarten hin.
Christina Beinke, Martin Bucher und Ursula Oestreicher beschreiben in ihrem Beitrag „Zytogenetische Untersuchungsmethoden in der biologischen Dosimetrie“ die eher klassischen Methoden. Sie sind am weitesten verbreitet und bereits seit ca. 60 Jahren etabliert. Der „Gold-standard“ ist die dizentrische Chromosomenaberration. Strahlenexpositionen von 100 mSv sind bereits nachweisbar. Länger zurückliegende Ereignisse lassen sich ergänzend mit der Untersuchung von Translokationen kombinieren. Als weitere Methode kommt die Untersuchung von Mikrokernen hinzu. Sie ist schnell und einfach durchführbar, doch leider nicht nur strahlenspezifisch, unterliegt also störenden Einflüssen. Auch die Translokation ist weniger zuverlässig als der „Goldstandard“.
Michael Kipke, Hartwig Pöttgen und Andreas Schirmer führen uns in ihrem Beitrag „Zur retrospektiven Dosis durch Röntgenstörstrahlung bei Arbeiten an militärischen Radargeräten“ auf das Gebiet früherer Anwendungen bei Bundeswehr und Nationaler Volksarmee. Für die Mehrzahl der Radargerätetypen lässt sich eine Strahlenexposition des technischen Personals ausschließen. Für Messungen der Ortsdosis-leistungen an Aufenthaltspunkten wurden Geräte in frühere technische Zustände zurückgebaut und Altgeräte wieder in Betrieb genommen. Die effektive Dosis wurde aus den Ortsdosisleistungen berechnet. Dabei wurde berücksichtigt, dass es sich um Teilkörperexpositionen handelte. Medianwerte der Dosisverteilungen sind für viele Zwecke aussagekräftiger als die für die Bewertung des Berufskrankheitsrisikos verwendeten Maximalwerte.
Lena Kuhne berichtet in ihrem Kurzbeitrag „Detektivarbeit: Dosisermittlung nach einer Meldung des Verdachtes einer Berufskrankheit 2402“ über das Herangehen an die Dosisermittlung bei berufsgenossenschaftlichen Verfahren. Daten aus vielen Quellen werden zusammengeführt. Dabei sind auch Hinweise zu Bestrahlungsumständen wichtig, die im Strahlenschutzregister so detailliert nicht vorhanden sind. Arbeitgeber und Beschäftigte können dazu beitragen, diese Information verfügbar zu halten. Zur Anerkennung muss nachgewiesen werden, dass beim vernünftigen Abwägen aller Umstände die auf die berufliche Verursachung deutenden Faktoren hinreichend stark überwiegen.
Als Fachbeitrag zum Schwerpunktthema nimmt Gerd G. Eigenwillig zum Thema „Ein vergeblicher Versuch der retrospektiven Abschätzungen der Radon-Expositionen für Uran-Bergleute der WISMUT“ Stellung. Beispielhaft wird die Situation im Objekt 09, einem der umfangreichsten und tiefsten Berg-werkskomplexe in Europa, betrachtet. Für die Beschäftigten der WISMUT können für die Zeit bis 1990 keine Individualdosen ermittelt werden. Grundlage für die Abschätzung der Strahlenexposition sind Kollektivmittelwerte aus Modellrechnungen. Die Strahlenexpositionen des Kollektivs sind nicht hinreichend homogen. Das Ergebnis der Abschätzungen sind Artefakte. Dies hätte möglicherweise Konsequenzen für Forschung und die Anerkennung von Berufskrankheiten.
Noch ein Fazit zum Schluss. Insbesondere die Fähigkeit zur Bewältigung von Notfallereignissen muss erhalten bleiben und auch ausgebaut werden. Oestreicher/Port schreiben: „Gut ausgebildetes und spezifisch trainiertes Personal, Up-to-date-Geräte und ausreichend Verbrauchsmaterial müssen zur Verfügung stehen, aber auch entsprechende Infrastruktur zur schnellen und effektiven Aktivierung der Netzwerkpartner sowohl im Falle eines Großereignisses als auch bei wenigen potentiell bestrahlten Personen.“ Damit ist viel gesagt. Radiologische Notfallvorsorge muss als Daseinsvorsorge gesehen werden, wie Feuerwehr und THW. Radiologische Notfallvorsorge braucht angemessene finanzielle Unterstützung. Hier sind EU und Bund, aber auch die Länder gefragt. Die Zeit, sich auf ohnehin vorhandene Kapazitäten stützen zu können, ist vorbei. Universitäten und Forschungszentren haben Lehrstühle und Forschungsgruppen abgebaut. Zuletzt auch die Strahlenbiologiegruppe des FZJ und die physikalische (Bio)Dosimetrie im Helmholtzzentrum München. Beides Gruppen mit internationaler Spitzenforschung.
Wo bleibt die Kehrtwende?
Peter Hill