Standpunkt des Präsidenten

Die Wirkung kleiner Strahlendosen

Zunächst einmal – was ist klein? Ich nehme als Vergleich die weltweit gemittelte natürliche effektive Dosis, die UNSCEAR im Jahr 2025 mit ca. 3 mSv pro Jahr und pro Mensch angeben wird. Es gibt viele Bereiche, in denen Dosen bis 10% dieses Wertes eine Rolle spielen. Regulativ z.B. bei der Freigabe (im Bereich von 10 µSv pro Jahr), bei Richtlinien für Trinkwasser (100 µSv pro Jahr), Exposition der Bevölkerung durch die Abluft oder den Wasserpfad nuklearer Anlagen (jeweils 300 µSv pro Jahr). Ebenfalls in diesem Dosisbereich spielen sich die Expositionen beim Fliegen (einzelne Flüge) oder bei statischen Röntgenaufnahmen ab. Strahlenbiologisch lassen sich im Labor Genmutationen bei Dosen im Bereich von einigen 100 µSv (allerdings erst bei hohen Dosisleistungen) nachweisen und daher beschäftigen wir Strahlenschützer uns seit Jahrzehnten mit der Frage der Wirkung kleiner Dosen.

Unser derzeit gültiges Modell der Risikobewertung für stochastische Strahlendosen ist die LNT Hypothese (linear no threshold). Nimmt man es wörtlich, so sind auch kleinste Dosen „gefährlich“ in dem Sinne, dass daraus Krebs entstehen kann. Doch entspricht das auch der Realität? Am Menschen sind belastbare Daten erst ab ca. 100 mSv verfügbar. Nicht bei den o.g. „kleinen Dosen“.

Man könnte auch noch anders argumentieren: Letztlich geht es im Leben immer um die Abwägung von Risiken und Chancen. Wenn wir die kleinsten Dosen vermeiden wollen (deren Wirkungen wir im Individuum, wie dargestellt, nicht nachweisen können), müssten wir auf alles, was im ersten Absatz des Textes als nützliche Anwendung beschrieben ist (und noch vieles mehr) verzichten. Will die Gesellschaft das wirklich? Menschen gehen in vielen Lebensbereichen Risiken ein, beispielsweise im Straßenverkehr und im Luftverkehr.

Dies bringt etliche Strahlenschützer zur Überzeugung: LNT schafft Ängste – LNT muss abgelöst werden.

Aber durch welche Alternative? LNT hat sich im praktischen Strahlenschutz bewährt. Es ist im Bereich von Dosen oberhalb von 10 mSv belastbar anwendbar. Es ist aber nie dafür entwickelt worden, individuelle Risiken bei kleinsten Dosen vorherzusagen. Das muss immer bedacht werden.

Würde das beachtet, gäbe es viele Probleme nicht. Niemand würde dann geringste Dosen mit vielen Exponierten multiplizieren und auf diese Art virtuelle Krebstote berechnen. Wir sehen das beispielsweise bei Ängsten in der Bevölkerung vor Ableitungen im Regelbetrieb kerntechnischer Anlagen über die Abluft, wir sehen das bei Akzeptanzproblemen im Rahmen der Entsorgung nach der Freigabe auf Deponien bis zum (geplanten) Endlager für radioaktive Abfälle.

Doch ist nicht auch das eine „Wirkung“ kleiner Strahlendosen? Ja, vielleicht sollte man hier präziser von geringen Ableitungen, von geringer Exposition sprechen. Aber es ist trotzdem eine „Wirkung“. Nach dem Unfall in Fukushima dürften die psychologischen Wirkungen die direkten Effekte der Strahlung bei weitem überstiegen haben. Können, ja sollten, wir diese als Strahlenschützer ignorieren und uns auf die reinen Wirkmechanismen, Grenzwerte und physikalische Dosisgrößen zurückziehen? Ich denke nein. Doch fügen sich solche Effekte nicht nahtlos in unser System ein. Wie jüngst vorgeschlagen, eine Komponente des Detriments zu schaffen, die auch diese Folgen berücksichtigt, scheint nicht umsetzbar, weil es keine Dosisabhängigkeit gibt.

Haben wir also keine Maßgabe, ohne unser System komplett umbauen zu müssen? Doch! Seit Jahrzehnten gibt es die ursprünglich von der IAEA eingeführte und von der ICRP übernommene triviale Dosis im Bereich von 10 µSv pro Jahr und das darauf angewandte, aus den Rechtswissenschaften stammende „de minimis“ Prinzip. Um diese kleinen Dosen sollte sich der Jurist und in diesem Sinne der Gesetzgeber „nicht kümmern“. Es kann also durchaus als eine Art Abschneidekriterium, ja wenn man möchte als Schwelle, gewertet werden. Wir leben das aber nicht. Über die vergangenen Jahrzehnte betrachten wir kleine und kleinste Dosen. Senken von Grenz- und Richtwerten trägt nach unserer bisherigen Erfahrung nicht zur Verbesserung der realen und auch nicht der gefühlten Sicherheit bei. Oder sagen wir so, es hindert kritische Gruppen und Personen, die echte Ängste haben, nicht daran, gegen jede noch so kleine (mögliche) Exposition anzugehen. Jüngst erreichte mich die Anfrage einer stillenden Mutter, von Beruf Zahnärztin, ob denn ihr Verzehr von 6(!) Paranüssen bei ihrem Kind über die Muttermilch ein erhöhtes Risiko für Knochenkrebs bewirkt haben könne und ob sie nun ein schlechtes Gewissen haben müsse. Offensichtlich hat hier Ausbildung und Kommunikation auf voller Linie versagt. Erschwerend kommt hinzu, dass mit mehrerlei Maß gemessen wir. Gleiche Expositionen aus anderen Quellen werden schlichtweg ignoriert oder gar nicht erst wahrgenommen (z.B. aufgrund von Nutzung fossiler Energieträger oder Geothermie). Auch die Ignoranz gegenüber der Exposition durch Radon ist hier ein Paradox. Mir scheint dies eher ein Kommunikations- und (Aus)bildungsproblem zu sein. Nicht eines, das zwingend nach einem vollständigen Umbau des Strahlenschutzsystems verlangt. Dieses würde uns nur den Ruf einbringen, dass wir ja offensichtlich die ganzen Jahre nicht gewusst haben was wir tun. Warum sollte man dann also einem neuen System vertrauen?

Klare Kommunikation, wertfreie sachorientierte (Aus)bildung muss hier viel konsequenter erfolgen als das in der Vergangenheit der Fall war. Wir erleben zurzeit in vielen Bereichen bis in die höchste internationale Politik eine zunehmende Abkehr von Wissenschaft und rationalem Handeln. Das darf uns kein Vorbild sein.

Januar 2025

Clemens Walther

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Das Wort des Präsidenten, als PDF.

Die Wirkung kleiner Strahlendosen. Der Präsident, Jan. 2025

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